Beobachtung der Proteste im Rahmen der Liebig 34 Räumung am Morgen des 09.10.2020

Verfasst von den Kritischen Jurist*innen FU Berlin

Hinweis: Die kritischen Jurist*innen sind eine Hochschulgruppe am Fachbereich Rechtswissenschaften, keine Volljurist*innen.

 

4:00 Uhr, Bersarinplatz

Die örtliche angemeldete Kundgebung mit einer Teilnehmer*innenzahl von etwa 50 Personen ist von drei Seiten eingegittert und von allen vier Seiten durch die Polizei bewacht. Die Musik der Kundgebung muss nach Polizeiweisung ausgeschaltet werden. Zeitgleich fährt die Polizeiflotte mit schätzungsweise mehr als 150 Wagen mit Blaulicht und Sirenen über die Warschauerstraße und die Petersburger Straße zum Bersarin Platz hinauf, ehe sie in die Rigaer Straße einbiegen. 

 

4:30 bis 5:30, Kundgebung in der Rigaer Straße / Liebigstraße

Die angemeldete Kundgebung hat etwa 1.000 Teilnehmer*innen. Auf diese gibt es Angriffe der Polizei in Form von Schlägen und Wegschubsen der vorne Stehenden. Eine vorliegende Gefahrensituation ist nicht erkennbar, trotzdem wird die gesamte Kundgebung wird mit Flutlicht beleuchtet und konstant abgefilmt.

Das Abfilmen einer angemeldeten Versammlung durch die Polizei stellt einen Grundrechtseingriff dar. Als Ermächtigungsgrundlage kommt § 1 VersAufnG Bln in Betracht, welches jedoch deren Einsatz in § 1 Abs. 1 VersAufnG Bln nur erlaubt, falls erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gegeben sind. Bei der Kundgebung handelte es sich um eine angemeldete Versammlung, zu diesem Zeitpunkt war eine solche Gefahr im Verzug nicht ersichtlich.  Nach §1 Abs. 1 VersAufnG Bln sind Übersichtsaufnahmen durch die Polizei nur erlaubt, falls diese auf Grund der Größe oder Unübersichtlichkeit der Versammlung im Einzelfall notwendig sind, um einen Polizeieinsatz durchzuführen. Bei der Versammlung waren 1000 Personen anwesend, welche sich in einer geraden, einsehbaren Straße befanden, eine Erforderlichkeit auf Grund dieser Größe ist nicht gegeben. Hinzu kommt, dass sich mehrere Polizist*innen auf den angrenzenden Dächern aufhielten, ein Überblick über die Versammlung war somit auch ohne Bildaufnahmen jederzeit gegeben.

Auch der Einsatz von Teleobjektiven durch die Polizei ist interessant. Die Rechtsprechung unterscheidet nicht zwischen Übersichtsaufnahmen oder personenbezogenen Aufnahmen, da die technischen Möglichkeiten zur Identifikation einzelner Teilnehmer*innen bei beiden gegeben sind (Vgl. OVG NRW, B. v. 13.3.20 – 15B 332/20; open Jur Rn. 13, mwN.). Jedoch lässt ein Einsatz eines Teleobjektivs darauf schließen, dass Aufnahmen nicht für eine bessere Übersicht über die Versammlung getätigt werden, sondern mit dem Ziel, einzelne Versammlungsteilnehmer*innen zu identifizieren. Dies ist jedoch nach § 1 Abs. 3 Satz 2 VersAufnG Bln ausdrücklich verboten. Die durch die Polizei getätigten Aufnahmen sind somit nicht mit dem Versammlungsgesetz vereinbar und stellen einen unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff dar. 

 

5:30 bis 6:00, Kundgebung in der Rigaer Straße / Zellestraße

Die angemeldete Kundgebung wird gekesselt. Ein eigentlich nach Osten garantierter Abgang von der Kundgebung ist damit nicht mehr möglich, lediglich der Zugang ist noch möglich. Anwohner*innen werden auch mit Verweis auf ihre in der Nähe liegenden Wohnungen nicht durchgelassen. Auf Nachfrage mit welcher Rechtsgrundlage die Kesselung der Kundgebung erfolgt, wird der Grund „Wir schauen mal“ gegeben. 

 

6:30 bis 8:40 Uhr, Kundgebung Rigaer Straße

6:30 bis 6:45

Es sind zu dem Zeitpunkt etwa 1500 bis 2000 Teilnehmer*innen bei der weiterhin angemeldeten Kundgebung. Ein mit Teleobjektiv ausgestatte*r Polizeibeamte*r fotografiert gezielt Einzelpersonen. Weiterhin wird konstant durch die Polizei gefilmt.

6:45 bis 7:00

Ab etwa 6:45 wird eine Polizeikette an der Ecke Rigaerstraße/Zellestraße gezogen. Der so entstandene Kessel verhindert wieder den Zu- und Abgang zur angemeldeten Kundgebung. Einsehbar aus dem Kessel heraus stehen außerhalb etwa 200-300 Personen, die scheinbar ebenfalls zur Kundgebung möchten, aber den Zugang verwehrt bekommen. Die weiteren Beobachtungen werden aus der Perspektive des Kesselinneren vollzogen. Die Polizeikette bestehend aus BFE’s (Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten) der Länder Bayern und NRW beginnen ab 6:50 den Kessel zu verkleinern (Verunmöglichen der Corona-Sicherheitsabstände). Dabei kommt es zu massiven Angriffen auf Pressevertreter*innen, Kundgebungsteilnehmer*innen und Anwohner*innen. Immer wieder werden Dialogversuche von Einzelpersonen mit den teilweise stoisch schweigenden Polizeibeamt*innen beobachtet.

7:00 bis 7:30

Auf der Kundgebung zur Seite der Liebigstraße gibt es weiterhin massive Kontrollversuche der Polizei in Form von einer mittlerweile mehrreihigen Polizeikette und dauerhaftem Abfilmen. Im Versuch, die Kundgebung zurückzudrängen werden wiederholt Teilnehmer*innen geschubst und angegriffen. Diverse Schläge und Tritte der Beamt*innen in Gesicht- und Bauchhöhe werden beobachtet.

7:30 bis 8:30

Es kommt zu schweren Zusammenstößen mit der BFE aus Bayern. Diese hatte durch Stoßen und Schreien die angespannte Situation eskalieren lassen. Auffällig ist dabei das Antreiben der Eskalation durch den Hundertschaftsführer und durch den deutlichen gewaltfreudigeren Umgang der bayrischen Beamt*innen im Vergleich zu den sie schließlich ablösenden Berliner Beamt*innen gegen 8:15. Immer wieder werden dabei nicht nur Protestierende sondern auch Pressevertreter*innen angegriffen. Während des gesamten Zeitraumes wird die Kundgebung mit mindestens zwei Kameras gefilmt. Weiterhin finden Verhaftungen statt, wobei die betroffenen Menschen über den Boden geschleift werden oder bewusstlos scheinen. Mehrere von Sanitäter*innen versorgte Personen wurden beobachtet, darunter auch solche mit blutenden Kopfverletzungen.

8:30 bis 8:40

Da sich mit Abziehen der bayrischen BFE die Lage deutlich beruhigt und um 8:30 etwa die Polizeikette Höhe Zellestraße und damit der Kessel aufgelöst wird.

 

8:50 bis 9:00, Proskauer Straße / Rigaer Straße

Eine Ansammlung von schätzungsweise 1000 Personen wird von Polizeibeamt*innen umstellt. Es kommt zu Zusammenstößen. Da Aufgrund der abriegelnden Polizeiketten kein adäquater Sichtkontakt zum Geschehen hergestellt werden konnte, findet eine Bewertung nicht